Samstag, 7. Februar 2009

Wenn die Kirchenglocken das letzte Mal läuten ...

18.12.1983

4.Sonntag im Advent

Kanzelgruß
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Als Predigt hören wir heute aus dem Buch des Propheten Jesaja Kapitel 52, die Verse 7 bis 10 in Luthers Übersetzung:
(7) Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten,
die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen,
die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!
(8) Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander;
denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion
zurückkehrt.
(9) Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems;
denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.
(10) Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, daß aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.

Lieber himmlischer Vater,
dein Prophet hat zu uns gesprochen und wir wissen, daß sein Ruf die Wahrheit verkündet. Ja, du bist König, du hast uns getröstet, du hast dich in Jesus Christus den Menschen überall in der Welt offenbart. In dieser Zeit des Advent, in der wir in der Erwartung deines Sohnes leben, treten wir vor dich hin, um dein Wort der Verkündigung zu hören. Öffne unsere Ohren und Herzen, damit wir verstehen und annehmen was du uns sagst. Amen.

Vor knapp einer halben Stunden verhallten die letzten Glockenschläge, mit denen wir aufgerufen wurden, uns hier zu versammeln. Nicht nur zur Versammlung rufen die Glocken, sondern auch zur Sammlung. Wissen wir, wie viele Menschen, die den Weg zur Kirche nicht gefunden haben – vielleicht, weil sie die Gemeinschaft der anderen fürchten, also, weil sie einsam sind, oder weil sie krank und gebrechlich ans Bett oder an die Wohnung gefesselt sind - wissen wir, wie viele Menschen beim Klang der Glocken still werden?
Ich weiß es nicht, müßte mich aber sehr wundern, wenn es nicht eine ganze Reihe von Menschen gäbe, die das tun. Vielleicht lesen oder singen sie ein Lied aus dem Gesangbuch, lesen einen Text aus der Bibel und wenden sich im Gebet an Gott.
Der Klang der Glocken ist nicht nur ein Aufruf und ein Anruf, er ist auch ein Zeugnis: Seht, hier ist Gottes Haus und es behauptet sich gegen alle Versuche, der Verbindlichkeit seines Wortes zu entgehen und in die Welt hinein zu entfliehen!
Die Kirchenglocken, unsere Kirchenglocken, sind also
- ein Anruf an uns alle, Gott zu hören,
- ein Aufruf, seinem Wort zu folgen, sich unter seinem Wort zu versammeln, zu ihm zu beten, ihm zu danken
- das Leben unter sein Wort zu stellen,
- eine Einladung an alle, teilzuhaben an der Gnade seiner Vergebung, indem wir ihm nachfolgen und
- ein Zeugnis für Gottes Wirken in der Welt. -

Vielleicht wissen Sie jetzt, weshalb ich heute mit diesem Gedanken an die Kirchenglocken begonnen habe. In der Leverkusener Ausgabe ein Kölner Tageszeitung hat man in der vergangenen Woche öffentlich darüber nachgedacht, ob dies das letzte Weihnachtsfest ist, zu dem die Glocken der Paulus-Kirche in Leverkusen-Wiesdorf läuten (Kölnische Rundschau vom 13.12.1983).
Sie wissen, weshalb das Presbyterium Ihrer Gemeinde darüber nachdenkt, wie die beiden Kirchenzentren Ihres Pfarrbezirks langfristig genutzt werden sollen. Die sinkende Zahl der Gemeindeglieder und sinkende Steuereinnahmen führen in Verbindung mit steigenden Kosten dazu, daß auch ungewohnte und schmerzliche Entscheidungen in Erwägung gezogen werden müssen.
Wenn wir uns heute hier zusammenfinden, dann beschäftigt uns die Frage nach dem Schicksal des Gemeindezentrums sehr. Der Kirchenraum ist so warm und anheimelnd, Pfarrwohnung und Gemeinderäume liegen dicht bei einander. Und die Glocken dieser Kirche sagen ja noch etwas mehr. Sie künden von dem Standort einer Kirche direkt am Rhein in unmittelbarer Umgebung eines expansiven Industrieunternehmens. Wer von uns Pfarrer Wamsers Einsatz für ein menschengerechtes Wohnen in seinem Pfarrbezirk in Wiesdorf miterlebt hat, der weiß, daß mit dem Standort dieser Kirche mehr verbunden ist als ein beliebig austauschbarer Treffpunkt, ein Haus Gottes, das auch an anderer Stelle ebenso stehen könnte wie hier. In der Paulus-Gemeinde ist in den vergangenen Jahren einiges geschehen, das wichtig war - wichtig für die Menschen, die hier wohnen, wichtig für den Stadtteil Wiesdorf, wichtig für die ganze Stadt Leverkusen - und die Paulus-Kirche, das Gemeindezentrum der Paulus-Gemeinde, war ein Kristallisationspunkt, an dem sich die Verantwortung der Christen erweisen sollte, Verantwortung vor Gott für seine Umwelt, für die Welt, in der er lebt, zu übernehmen.
Wo ist in dieser Lage nun der Bote, der Frieden und Heil verkündet, der hier Gutes predigen könnte?
Machen wir uns klar, in welcher Lage das Volk Israel war, als der Prophet ihm diese Worte zurief. Jerusalem war von seinen Feinden zerstört worden. 4.600 Menschen wurden in die Gefangenschaft nach Babylon gebracht. Heute schätzt man, daß es insgesamt 12.000 bis 15.000 waren. In der Fremde konnten sie sich ein eigenes Leben, eine eigene Existenz aufbauen. Ihr Glaube an die Allmacht JAHWES, ihres Gottes, war erschüttert. Viele nahmen aufmerksam zur Kenntnis, welcher Art die vielen anderen Gottheiten waren, die in Babylon verehrt wurden. Viele - vielleicht fast alle - hatten die Hoffnung aufgegeben nach Palästina zurückzukehren.
Da tritt der Prophet auf und öffnet ein Fenster, das den Blick auf die freie Heimatstadt Jerusalem freigibt. Er spricht von der Allmacht Gott und davon, daß Gott sein Volk nicht aufgegeben habe. Ja, er verkündet die Rückkehr der in der Verbannung lebenden Juden und ein neues Reich. Der Prophet spricht zu Juden, denen es materiell erträglich bis gut geht, deren Glaube aber an Kraft rapide verloren hat. Ihnen ruft er zu daß Gott der Juden König sei, daß er nach Jerusalem zurückkehren wird, daß er sein Volk tröstet, Jerusalem erlöst und vor aller Welt sichtbar werden läßt, daß er dieses Volk zum Heil führt. In großer Glaubensschwäche, Nachlässigkeit in Glaubensfragen und bei wachsender Neigung zur Abkehr vom alten Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, wird dem Volk ein Prophet gegeben, der mit bezwingender Kraft den Sieg Gottes verkündet.
Hier wird deutlich, daß die verdunkelte Gegenwart durchdringend erhellt werden kann durch die Gewißheit, daß die Zukunft den Sieg des Lichtes bringen wird. Dein Gott ist König. Was bedeutet das für die Juden, die in der Zeit des Propheten lebten? Sie werden erinnert an die Einmaligkeit ihres Väterglaubens, in dem es nur einen Gott gibt - andere Religionen kannten ganze Götterfamilien oder gar Göttervölker.
Dein Gott ist König. Das bezeugt aber nicht nur die Einmaligkeit, sondern auch die Allmacht Gottes. Der Juden König steht über allem - er beherrscht die Welt als eine Schöpfung. Dein Gott ist König. Mit diesem Wort wird gleichzeitig gesagt, daß alle Welt diesem Gott, diesen König untertan ist: Alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, daß aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.
Der Prophet nimmt die Zukunft vorweg und stellt fest, daß der Gott der Juden seine Macht, sein Heil vor der ganzen Welt erwiesen hat. Das Exil der Juden war beendet, der von Nebukadnezar zerstörte Tempel wurde wieder aufgebaut - neu aufgebaut. Vor dieser Zukunftsperspektive kann der Prophet seinem Volk zusichern, daß der Herr sein Volk tröstet und Jerusalem erlöst. Seid fröhlich und rühmt miteinander die Herrlichkeit Gottes! Dies ist nun die Aufforderung, die aus der Gewißheit folgt, daß Gott König ist, daß er sein Volk in die Heimat zurückführt und daß er sein Haus, den Tempel, aufbauen läßt. Jetzt wird erklärlich, daß unsere Textstelle mit dem Bericht über die Freudenboten beginnt, die Frieden verkündigen, Heil verkünden und Gutes predigen.
Für den heutigen Tag sind als Lesung vor dem Altar zwei Textstellen vorgeschlagen worden, von denen wir den Bericht aus dem Evangelium nach Lukas gehört haben. Maria besucht Elisabeth und wird begrüßt mit den Worten: 0 selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist, von dem Herrn - Lukas 1, 41-45. Wenige Verse zuvor ist gesagt, "dein Sohn wird ein König sein über das Haus Jakob ewiglich" - Lk 1, 33 -.
Die zweite Stelle finden wir in dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper. Dort heißt es: "Freut euch in dem Herrn allewege und abermal sage ich euch: Freuet euch! Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! - Phil.4, 4-7 -.
In allen drei Stellen wird Gottes Kommen angekündigt
- vom Propheten des Alten Bundes im babylonischen Exil der Juden,
- von der Freundin Maria zur Zeit Jesu und
- von Paulus, der nach Jesu Tod und seiner Bekehrung zum Christen
annahm, der jüngste Tag stehe unmittelbar bevor.

Vierter Advent 1983 - sind wir nun diese Freudenboten, von denen der Prophet spricht? Ist das ein Datum, zu dem auch wir das Kommen Gottes ankündigen können? Können wir - wie Jesaja - sagen, daß der Herr zurückkehrt? - Wir wissen, daß Gott Mensch wurde und für uns in den Tod ging. Gott ist zurückgekehrt. Sind wir uns bewußt, daß Gott unter uns ist? Wir dürfen manchmal daran zweifeln. Nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch der Umgang miteinander und der Umgang mit Gottes Botschaft lassen gelegentlich erkennen, wie schwer wir es damit haben, Gott bei uns eine Heimat zu geben. Wir brauchen nur an die Botschaft der Freudenboten zu denken.
Wird in unserer Zeit Frieden verkündet? - Der Frieden ist unserer Welt nicht näher gekommen. Die Vernichtungskräfte in der Hand des Menschen gewinnen ungeahnte Ausmaße. Doch allmählich haben nicht nur immer mehr Menschen die Einsicht, daß Frieden auf der Welt nur dann auf Dauer möglich sein wird, wenn jeder von uns friedfertig mit dem anderen umgeht, sondern dieses Ziel ist auch an die Spitze der meisten politischen Zielkataloge getreten. Die Friedensbotschaft im Advent 1983 kann nicht verkünden, daß der Friede gesiegt und auch die Welt der Menschen erfaßt habe. Aber sie zeigt den Weg und das große Gewicht des Friedens für jeden von uns auf.
Heil verkündigen und Gutes versprechen - auch das fällt schwer im Jahre 1983. Der Herr ist nahe - nicht nur im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt, sondern auch im Jahre 1983? Das ist doch die Botschaft des Advent! Gott ist Mensch geworden. Was der Prophet nicht aus eigener Anschauung wissen konnte, das ist doch geschehen! Warum fällt es uns Menschen nur so schwer, die Fülle der Gnade, des Friedens und des Heils zu erfahren und weiterzugeben, die dieses Ereignis gebracht hat? Wir wissen zwar - anders als Paulus -, daß wir den jüngsten Tag nicht in irdischen Zeitmaßstäben erwarten können, aber wir dürfen doch gewiß sein: Der Herr ist nahe, Gott ist Mensch geworden! So sind auch wir aufgefordert, Frieden zu verkündigen, Heil und Gutes in der Welt zu verbreiten, wo es uns möglich ist, fröhlich miteinander zu sein und Gottes Gnade zu loben. Auch uns hat Paulus zugerufen, daß wir unsere "Lindigkeit kund sein lassen allen Menschen" - "unsere Lindigkeit", ein anderer Übersetzer spricht von "Güte" - (Gerhard Friedrich, NTD 8, 5.166). Wir sollten uns fragen, ob wir gütig sein können.
Vierter Advent 1983 - wird es der letzte Advent in der Paulus-Kirche sein? Wir wissen es wohl nicht. Es ist gewiß gut, dieses Haus Gottes und seine Bedeutung für die Menschen in Wiesdorf sorgfältig zu prüfen - auch das, was als Alternative für andere mögliche Nutzungen erwogen wird. Sicherlich ist da jeder aufgerufen, mitzusorgen, mitzudenken und auch mitzutragen, was dann entschieden werden muß. Dennoch sollten wir daran denken, daß unsere Häuser und Türme vergänglich sind und äußere Formen, bleiben. Ihrer Sinn und Inhalt gewinnen sie erst durch das, was in ihnen und mit ihnen geschieht. Das galt und gilt auch für die Paulus- und die Christus-Kirche in Leverkusen-Wiesdorf.
Die Adventsbotschaft des vierten Advent 1983 dringt also durch diese äußere Formenwelt hindurch und trifft den Kern unseres Lebens. Hier ist aber wohl jeder Anlaß, sich zu freuen, zu jubeln und zu jauchzen. Sonderbarerweise fällt uns das immer wieder schwer. Unsere eigene Natur belastet uns mit den eigenen Vorbehalten, mit unseren eigenen Fehlern und Nöten ebenso wie mit denen der anderen. Oft scheint es, als gäbe es keine Freude in unserer Welt.
In diese Trübsal und Resignation hinein ruft nun der Prophet: Dein Gott ist König. Das heißt, dein Gott überwindet alle Schwierigkeiten dieser Welt. Vertraue dich ihm an! Er kommt zu dir und tröstet dich in aller Not, er weiß auch einen Weg für dieses Kirchengebäude. Deshalb seid fröhlich und lobet Gott. Der Herr ist nahe!
Mit allen Dingen sollen wir zu ihm kommen. Ist uns das immer deutlich und nutzen wir diese Möglichkeit? Wir dürfen uns frei machen von dem, was uns belastet. Gott hat es in Christus auf sich genommen. Dafür können und wollen wir ihm danken.
Möge uns Gott, der Herr, die Kraft des Glaubens schenken, ihn und seine Gnade anzunehmen, wie Maria es tat! Dann wird für uns zur Erfahrung, was Elisabeth ihrer Freundin voraussagte: "0 selig bist du, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn."

Lieber himmlischer Vater,
unsere Kraft reicht nicht aus, dir zu folgen und die befreiende Macht der Geburt deines Sohnes hier in unserer Welt in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Wir brauchen dazu deine Hilfe und bitten dich, laß uns in den kommenden Weihnachtstagen Mut und Kraft wachsen, dem Frieden in der Welt zu dienen und für das Heil, das du verkündest, mit frohem Herzen einzutreten. Amen

Kanzelsegen
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unsern Herrn! Amen.

Lieder:
- "Macht hoch die Tür ..." EKG 6/EG 1
- "Nun jauchzet all ihr Frommen ..." EKG 7/EG 9
- "Dankt, dankt dem Herrn, jauchzt volle Chöre ..." EKG 466/EG 630
- "Wunderbarer König ..." EKG 235/EG 327

Materialien:
Westermann, Claus: "Das Buch Jesaja. Kapitel 40 bis 66" Göttingen.4.A.1981, S. 201 - 203 - ATD 19 -
Friedrich, Gerhard: "Der Brief an die Philipper" (4,4-7) Göttingen.5.A. 1981. S. 166 - 172 - NTD 8 -
Schweizer, Eduard: "Das Evangelium nach Lukas" (1,39 - 45) Göttingen.18.A. 1982, S. 21 - 23 - NTD 3 -
Mai, Hans: "Läuten Glocken zur Weihnacht letztmals? Es geht um den Verkauf des evangelischen Gotteshauses" in "Kölnische Rundschau" vom 13.12.1983

Helmut Böhme/Leverkusen

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